4. Bericht Marlene Epp 15.08.13

Ein Jahr in einem Land der geordneten Widersprüchlichkeit

Projekt – wie ich lernte, Lehrerin für behinderte Kinder zu sein

Es hatte mich nie gereizt in meinem Freiwilligenjahr mit Menschen mit Behinderung zu arbeiten. Und nun schaue ich während des Heimflugs einen Film über ein autistisches Mädchen und entdecke so viele Eigenheiten meines Schülers Humam wieder. Einer der Momente in dem ich realisierte, wie viel ich über Behinderungen gelernt habe.

Im Grunde kam ich völlig unqualifiziert in mein Projekt, dafür aber motiviert und mit dem Vorsatz durch Erfahrungen zu lernen. Schon in den ersten Wochen wurde mir bewusst, dass man bei dieser Form des Lernens gar nicht merkt, wie viel Neues man speichert.

Nach einem Jahr kenne ich Merkmale verschiedener geistiger Behinderungen, habe einen Riesenvorrat an Bastelideen, lernte auf verschiedenen Wahrnehmungsebenen gleichzeitig zu arbeiten und habe Wege gefunden, Matheaufgaben bunt und spannend zu gestalten. Aber für all dies musste ich vor allem zwei Eigenschaften täglich auf’s Neue trainieren: Konsequenz und Geduld.

Die größte Herausforderung auf der Arbeit war für mich der Spagat zwischen Konzepten des alternativen und vor allem selbstiniziertem Lernens und den Regeln und Strukturen in unserem Projekt. Außerhalb der Schule hat mich das Buch „Mit Kindern Neue Wege gehen“ von Lienhard Valentin des Mit Kindern Wachsen-Vereins sehr inspiriert. Ich war beeindruckt davon, der kindlichen Neugier zu vertrauen und von der Idee, dass jedes Kind im Rahmen seiner jeweiligen Entwicklungsphase fähig ist alles zu lernen und zwar aus eigenem Antrieb – ohne Vorgaben der Lehrer. Es bräuchte dazu nur eine geeignete Umgebung.  Aber konnte ich diese Umgebung an meinem Arbeitsplatz überhaupt schaffen?

Den Rahmen der Schule zu ändern lag weit über meinem Kompetenzbereich, aber ich fand einen Weg meinen Überzeugungen treu bleiben zu können. Innerhalb meiner Mathe- und Kognitionsunterrichtsstunden hatte ich große Freiräume, die ich nutzte. Außerhalb meines Unterrichts folgten die Kinder und ich dem Stundenplan. Ich versuchte jedoch im Umgang mit den Kindern nichts (frontal) zu erzwingen, sondern sie zu inspirieren. Während des Morning Circles hatte ich beispielsweise zu Beginn das Verhalten meiner Kollegen imitiert. Die Kinder, die scheinbar nicht ordentlich mitmachten, zwang ich durch führen der Hände oder Festhalten dazu, die Bewegungen zum Lied zu machen. Irgendwann realisierte ich, dass ich dies nicht mehr wollte.  Es kam mir vor, als wären die Kinder Puppen, nicht Menschen, denen man wirklich begegnet. Und schließlich habe ich meinen Mittelweg gefunden: Ich machte die Bewegungen nur in direkter Interaktion mit dem Kind, sodass das Kind den Freiraum hatte die Bewegung selbstständig zu imitieren oder, wenn es noch nicht soweit war, eben nur zuzuschauen. Und ich hörte auch auf, die Hand (oder gar den Arm) eines Kindes einfach zu nehmen, stattdessen bat ich es, mir seine Hand zu geben – und siehe da, meistens streckte das Kind mir die Hand von sich aus hin!

Ich glaube, dass ich damit auch meine Kollegen ein wenig inspiriert habe. Zumindest hoffe ich das. Die Arbeit im Team war jedenfalls harmonisch, wenn auch sehr heterogen. An der einen oder anderen Stelle, zum Beispiel beim Gruppenbasteln, hätte ich mir etwas mehr Unterstützung und kollektive Konsequenz gewünscht.  Meistens jedoch haben wir aufeinander geachtet und uns gegenseitig um Hilfe gebeten und geholfen.

Meinem Vorsatz aus dem Halbjahresbericht bin ich übrigens gerecht geworden: Im Kontakt mit meinen Vorgesetzten blieb es sachlich, ohne Konflikte. So konnte ich mich mehr auf die Kinder und ihre Bedürfnisse konzentrieren.

Gastfamilie – von der Gasttochter zur Geldquelle

Die Beziehung zu meiner Gastfamilie begann harmonisch.  Ich fühlte mich als Teil der Familie von Aishu und Girija, willkommen und akzeptiert – so wie ich es mir erhofft hatte.

Blicke ich auf meinen Halbjahresbericht, kann ich kaum glauben, wie harmonisch die Beziehung zu meiner Gastfamilie noch im Februar war.

Danach war der Kontakt zu meiner Gastfamilie mit viel Schmerz und Streit verbunden.

Die Veränderung der Situation begann schon lange bevor ich sie das erste Mal als negativ wahrnahm, mit einer langsamen Zunahme an Regeln und Einschränkungen. Irritierend  war hier vor allem, dass es für mich  keine ersichtlichen Gründe, wie z.B. vorherige Regelverletzungen seitens uns Freiwilligen, dafür zu geben schien. Wir akzeptierten sie dennoch, schließlich waren wir zu Gast.

Hinzu kam, dass meine Gastmutter, während sich die Situation mit dem Gastvater verschärfte, uns immer mehr in den Familienkonflikt involvierte. So fuhren sie und Aishu beispielsweise am Wochenende zu ihrer Familie und gebot Cadda und mir dem Vater auf keinen Fall das Tor aufzuschließen. Außerdem durften wir abends kein Licht anmachen, damit er nicht sehe, dass wir da sind.

Und schließlich hatte ich eine Menge Besuch aus Deutschland in der Zeit, in der Girijas Entschluss sich von Ashok scheiden zu lassen immer fester wurde. Scheidung ist in Indien eine sehr heikle und untypische Sache. Ich kann verstehen, dass es eine schwere Zeit für sie war und akzeptierte es, nur wenig Besuch zuhause zu empfangen, aber ihre Grenzen gingen zu weit. Sie verbot meiner Mutter und meinem Bruder mich für einen Nachmittag in meiner Wohnung zu besuchen. Als ich daraufhin meine Tränen nicht zurückhalten konnte, weil ich meiner Familie diesen wichtigen Teil meines Freiwilligenaufenthaltes zeigen wollte, wurde sie sehr böse. Sie schüttelte mich und schrie mich an. Eine ähnliche Situation spielte sich ab, als meine Mutter zwei Wochen später, am Tag ihrer Abreise zwei Stunden in meiner Wohnung war, um zwischen Zug und Flug zu duschen und sich zu verabschieden. Es fiel der Satz: „Your mother has to pay, if she takes a shower in my house“.

Es ging mir sehr schlecht. Und ich musste mich, wie bereits im Januar vom Projekt, nun auch von meiner Gastfamilie emotional distanzieren. Ich verlor meine indische Mutter und meine indische Schwester als Bezugspersonen.

Aber ich wollte meine Gastfamilie nicht wechseln, da die zweimonatige Reise kurz bevor stand und ich hoffte, die Situation könnte sich währenddessen beruhigen.

Als ich Anfang Juni von meiner Reise wiederkam, traf dies jedoch nur kurzzeitig zu. Der Vater war wieder im Haus, die Scheidungsfrage schien gegessen zu sein, aber wieder entstand Ärger und unsere Freiräume wurden weiter minimiert. Kein Besuch. Nicht einmal die Freiwilligennachbarn waren an ihrem letzten Abend erwünscht. Am Ende durften wir während den Mahlzeiten nicht mehr sprechen.

Es gab keinen Abschied. Die letzte Geste, die mir meine Gastmutter entgegenbrachte, war mir symbolisch vor die Füße zu spucken.

Es macht mich traurig, aber ich fühle keine Verbitterung. Ich glaube Girjia hat ein zu verzwicktes Leben, um Freiwillige aufzunehmen. Sie war scheinbar nicht bereit für einen interkulturellen Austausch und vor allem von der Summe inspiriert, die ICDE India Gastfamilien als Entschädigung zahlt (4000 Rs./ 50€ pro Freiwilligen und Monat).

Zum Glück gab es auch andere Inder und Inderinnen, die mir auch viel Positives gegeben haben.

Shashi, meine ICDE Kontaktperson, die in unserem Nachbarhaus aufgewachsen ist, hat uns vor allem beim Abschied voll unterstützt. Sie und ihre Tante waren am Ende wie eine Ersatzgastfamilie. In Tamil Nadu, im Dorf zweier befreundeter Freiwilliger gibt es eine großartige Familie. Sie luden mich bei jedem Besuch zum Essen ein und trugen reichlich auf, sie sagten ich sei wie eine Tochter, sie würden mich nie vergessen und schenkten mir sogar ein Abschiedsgeschenk.

Eine meiner Kolleginnen, Dhanya, lud mich ebenfalls zu sich ein. Einmal sogar für einen Wochen- endausflug zu ihren Großeltern. Auch dort war ich willkommen.

Die Freizeit – Zeit für eine große Reise

Meine Freizeitbeschäftigung in Mysore änderte sich kaum. Ich machte Yoga und hatte zweimal die Woche Tablaunterricht. Außerdem etablierte es sich, jeden Donnerstag mit allen Mysorefreiwilligen Essen zu gehen – für mich ein willkommener Grund raus aus der Gastfamilie zu kommen!

Dann standen die großen Ferien im April und Mai bevor.  Mit soviel Zeit, wie nie zuvor, bereiste ich weiter den Süden Indiens und im Mai gemeinsam mit Jule und Miriam auch den Norden. Ich hatte die Chance in ganz verschiedene Subkulturen der indischen Kultur reinzuschnuppern. Vor allem auf der Nordenreise habe ich interkulturell nochmal ganz neue Erfahrungen gemacht. So erschienen mir die Frauen in Sikkim im Himalaya viel emanzipierter als ich es bisher empfunden hatte und  kein einziges Mal schauten mir Männer  hinterher. In Rajasthan, so erzählte uns unser Kamelführer, war es vor 30 Jahren noch gang und gebe, dass Jungs und Mädchen eng befreundet waren, während mittlerweile die Interaktion zwischen den Geschlechtern außerhalb der Ehe kaum mehr stattfindet. Und in Goa ist es möglich zwei Wochen Strandurlaub zu machen, ohne zu Erfahren was Idly oder Dosa sind. Ich lernte es zu schätzen, durch meine Arbeit und dem Leben in einer Gastfamilie, dem indischen Alltag viel näher zu kommen, als es anderen Reisenden möglich ist. Diese intensive Reiseerfahrung schärfte meinen Blick auf meinen Freiwilligendienst. Ich realisierte so stark wie nie zuvor, wie groß der Unterschied ist als Tourist ein Land zu bereisen oder in einem Land zu arbeiten.

Indien – so anders, so Zuhause

„Wie war Indien?“ – eine für mich unbeantwortbar wirkende Frage.

Ich kann mich ihr von vielen Seiten nähern und eine Wichtige ist vermutlich, ob dieses Land und dieses Auslandsjahr meine Erwartungen erfüllt haben.

Da ich vor Antritt des Freiwilligendienstes versuchte meine Erwartungen sehr offen zu halten, wurden sie zu großen Teilen erfüllt. Floskeln wie „über den Tellerrand gucken“ sind für mich in ihrer Bedeutung greifbarer geworden. Im Rückblick habe das Gefühl die meisten interkulturellen Erfahrungen und Aha-Augenblicke bereits innerhalb der ersten sechs Monate gemacht und in meinen vorigen Berichten zu genüge beschrieben zu haben.

Am wenigsten wurden meine Erwartungen im Bereich der sozialen Integration erfüllt. Zwar war ich in mancher Hinsicht durchaus sozial integriert, zum Beispiel in meinem Wohnviertel.  Das merkte ich, wenn der Obsthändler sagte, ich solle morgen bezahlen, er habe kein Wechselgeld oder mein Fahrradhändler mich zum Chai einlud.

Andererseits habe ich mit meiner Gastfamilie keine zweite Familie gefunden und hatte auch keine tiefen Freundschaften zu Einheimischen. Sicherlich hätte ich meine Freizeit weniger mit anderen Freiwilligen und dafür mehr mit Einheimischen verbringen können, jedoch begegnete mir nie ein Inder und eine Inderin bei der sich ein tiefes Gefühl der Verbundenheit einstellte. Selbst, wenn ich die Personen mochte, so hatte ich nicht das Gefühl, dass uns genug für eine innige und nachhaltige Freundschaft verband.

Erfüllt wurde vor allem die Erwartung, durch Indiens Vielfalt meinen Horizont zu erweitern.

Bevor ich nach Indien flog, las ich oft, dass man in Indien alles findet. Es sei vielfältig und gegensätzlich und wenn du dir sicher seist, dass es so ist, träfe ganz bestimmt auch das Gegenteil  zu. Begriffen habe ich diese geordnete Widersprüchlichkeit erst hier. Ich habe die unformulierbaren Regeln Indiens erspürt und konnte mich in dieser anderen Kultur zuhause fühlen.

Eure Marlene