2. Bericht Marlene Epp 29.11.2012

Drei Monate im Land der heiligen Kühe

„Momentan fühle ich mich sehr, sehr wohl mit dem Alltag, der sich mittlerweile eingestellt hat.“ Nach drei Monaten in Indien sind es Sätze wie dieser, die ich in meine Emails nach Hause schreibe. Seit ungefähr zwei Wochen begleitet mich dieses Gefühl endlich meine Platz gefunden zu haben. Meinen Platz als Gasttochter und Gastschwester, als Mitbewohnerin von zwei anderen Freiwilligen, als „neue“ beste Freundin, als Kannada-, Yoga- und Tablaschülerin, als Indien-am-Wochenende Bereisende und als Lehrerin für Kinder mit Behinderung.

Projekt – der eigentliche Freiwilligendienst

Die Beautiful Gate Special School (BGSS) ist eine kleine Schule für Kinder mit geistiger Behinderung, die von einem amerikanisch-indischen Ehepaar geleitet wird. Ich unterrichte Mathe und Kognition für die weniger beeinträchtigten Kinder. Es sind neun Schüler im Alter von 10-18 Jahren. Ihr geistiges Alter ist entsprechend ihrer Behinderung um einiges jünger. Neben den Unterrichtsfächern Mathe & Kognition, Englisch (unterrichtet von meiner Projektpartnerin), Basteln und Nähen, steht in der BGSS Tanzen, Singen, Filme schauen, Vorlesen und Kunsttherapie (Trommeln, Malen, Kneten, Theater, …) auf dem Stundenplan.

Einmal im Monat ist Projekttag. Der letzte war ein Zirkustag und ich habe ihn zu 95% organisiert. Es war sehr viel Arbeit, aber es hat sich gelohnt. Die Kinder hatten Spaß und ich konnte ihnen Jonglieren zeigen, was ich mir unbedingt vorgenommen hatte. Außerdem hat die von mir mitgebrachte Theaterschminke zum ersten Mal Verwendung gefunden.

In einer normalen Unterrichtsstunde (30 Minuten) unterrichte ich zwei Kinder gleichzeitig. Der Unterrichtsstoff muss individuell auf sie ausgerichtet sein. Meinem Besten Schüler bringe ich gerade Addition mit Zahlen von 1-10 bei, mein lernschwächster Schüler kann die zahlen von 1-5 aufschreiben (aber nicht sagen). Neben Mathe versuche ich aber vor allem Lifeskills zu trainieren: Namen und Farben von Früchten, erkennen was größer/kleiner/anders/gleich ist, Umgang mit der indischen Währung, Wegbeschreibungen (links/rechts/geradeaus), und Ähnliches.

Niemand hat mir erklärt, wie oder was genau ich unterrichten soll, was ich eigentlich erwartet hatte. Ich und meine Projektpartnerin konnten uns einen Tag den Schulalltag anschauen, dann wurden wir mit dem Kommentar: „Do the same like the volunteers before, there were on the right way“ ins Lehrerdasein entlassen. Überforderung Pur! Zum Glück haben uns unsere Vorgänger Informationen über den Lernstand der Kinder für uns aufgeschrieben. Das hat enorm geholfen.

Allerdings habe ich lange gebraucht, bis ich herausgefunden habe, wie ich unterrichten möchte. Es dauerte bis die Kindern sich mir öffneten und auch ich musste mich erst den Kindern öffnen. Wichtig war und ist mir spannenden und abwechslungsreichen Unterricht, der mir Spaß macht und die Kinder begeistert, zu geben. Anfangs war ich oft überfordert und unzufrieden, fühlte mich nicht qualifiziert genug (ich habe schließlich weder Qualifikation im Bereich alternativen Unterrichtens, noch in der Arbeit mit behinderten Kindern), aber nach drei Monaten Erfahrung sammeln fühle ich mich wohl und bin öfter mal stolz auf die ein oder andere besonders gut gelungene Unterrichts-stunde. Die Arbeit bleibt jedoch eine tägliche Herausforderung!

Neben der Schwierigkeit mir darüber klar zu werden, wie ich unterrichten möchte und kann, fand ich es schwer mein Verhältnis zu meinen jeweiligen Mitarbeitern für mich zu definieren, bzw. meine Rolle innerhalb des Schulteams zu finden (was mir allerdings gar nicht bewusst war). Zwar wurden wir sehr freundlich empfangen und auch sofort integriert, aber nach etwa 6 Wochen gab es eine Menge angesammelte Unstimmigkeiten. Es endete in einem Streit zwischen der Office-Mitarbeiterin Hema und mir. Der Auslöser war, dass ein Kind in die Hose gepinkelt hatte, aber wie so oft schwang im Streit viel mehr mit! Es folgte ein Gespräch mit meinen beiden Chefs, Hema, meiner Mitfreiwilligen Cadda (auch bei ihr gab es zuvor Komplikationen) und mir. Ich habe die Chance genutzt und wirklich alles, was mich in irgend einer Weise störte oder verunsicherte und mich direkt betraf, anzusprechen. Das hatte ich mich in vorangegangen Mitarbeitertreffen nicht  getraut, bzw. nicht für notwendig gehalten. Auch unsere Chefin hat endlich alle ihre Bedenken geäußert. Sie hat unangenehm Viele vorher überhaupt nicht angesprochen!

Erstaunlicherweise läuft seit dem alles wunderbar. Zwar gibt es immer noch Punkte, die mich an der Schule grundsätzlich stören, aber diese zu verändern liegt definitiv nicht innerhalb meiner Kompetenz. Seit dem Gespräch bin ich jedoch mit allem, was ich tue, sicherer und sogar engagierter (dass hatte mit zunehmender Disharmonie abgenommen). Gleichzeitig frage ich jetzt bei jeder noch so kleinen Unsicherheit direkt nach, um vorzubeugen, dass Jemandem etwas nicht passt, was ich mache, es jedoch nicht ausspricht.

Generell bin ich mir sicher, dass ich diese Arbeit (sowohl Lehrerin, als auch Betreuer für Menschen mit Behinderung) auf keinen Fall mein Leben lang machen möchte. Aber innerhalb dieses Freiwilligendienstes fühle ich mich wohl und lerne meine Arbeit immer mehr zu lieben. Und dass, obwohl ich in meine Bewerbung schrieb, dass ich eigentlich nicht mit Menschen mit Behinderung arbeiten möchte!

Die Gastfamilie – my sweet home

Ich lebe zusammen mit Catharina aus Deutschland und Meri aus Finnland bei Girija und Aishwarya (Aishu). Girija, meine Gastmutter, ist 39 Jahre alt, Hausfrau, Näherin und super nett. Sie spricht nur einzelne Wörter Englisch und ansonsten Karnatakas lokale Sprache Kannada. Wenn es mit der Kommunikation mal nicht klappt, dann lachen wir einfach zusammen.

Praktisch ist, dass meine Gastschwester Aishu, die zum College geht, wirklich wichtige Informa- tionen ihrer Mutter übersetzen kann, denn sie spricht ausgezeichnet Englisch.

Aishu ist so fleißig! Es beeindruckt mich sehr, dass sie ihre (Schul-) Bildung so ernst nimmt. Sie steht morgens um fünf auf, um zu lernen, kommt Nachmittags um halb fünf nach Hause und sitzt spätestens um sieben Uhr wieder vor ihren Büchern – ohne eine einzige Beschwerde! Stattdessen spricht sie davon, dass es eine große Chance ist und sie lieber jetzt fleißig ist, um später ein finanziell abgesichertes leben zu führen. So viel Weitsicht mit 16 Jahren!

Von Anfang an habe ich mich bei den Zweien sehr wohl gefühlt und das ist nach wie vor so. Sie sind meine indische Mutter und meiner indische Schwester.

Diese Gefühlt habe ich allerdings nicht zu meinem Gastvater, Ashok. Er ist 46 und so gut wie nie zuhause, weil er auf einer Farm arbeitet, die er allerdings bald gegen den Willen seiner Frau verkauft. Es macht mich traurig die Ehe zwischen Girja und Ashok mitzuerleben. Ich habe noch nie mitbekommen, wie Ashok liebevoll mit seiner Frau oder Tochter umgegangen ist, meistens ist er sehr distanziert. Wenn er da ist, sitzt er oft schweigend auf dem Balkon. Auch finanziell trägt er -laut seiner Tochter-  kaum etwas zur Familie bei. Zwar hat er Aishu letzte Woche ein Handy gekauft, aber das Haus, sowie Aishus Collegegebühren zahlen die Großeltern (mütterlicherseits). Er steuert auch – nach Aussage von Girija und Aishu – nichts zu den Lebenserhaltungskosten des Haushalts bei. Ich habe mitbekommen, dass er selbst als meine Gastmutter ins Krankenhaus kam (und sich von uns Freiwilligen Geld für einen Gips geliehen hat) erst nach einer heftigen Diskussion bereit, Geld dazuzugeben! Ich hätte nicht erwartet so einen tiefen Einblick in eine so un- harmonische arrangierte Ehe zu bekommen. Es lässt mich wertschätzen, was für mich eigentlich selbstverständlich war: Es ist meine Entscheidung mit welchem Menschen ich mein Leben verbringen möchte. Ich bewundere meine Gastmutter dafür, dass sie dennoch so ein herzlicher, positiver und offener Mensch ist. Davon möchte ich mir unbedingt eine Scheibe abschneiden.

Die Freizeit – So mache ich mir mein Indien

Drei Dinge habe ich mir für meine Freizeit in Indien vorgenommen: Erstens, nachhaltig etwas vom indischen Kulturgut mitzunehmen. Zweitens, Indien zu bereisen, um möglichst verschiedene Orte zu sehen. Und Drittens, es mal etwas ruhiger angehen zu lassen, um mein altes Muster des rund-um-die-Uhr beschäftigt-Seins zu pausieren.

Zwei dieser Punkte habe ich bisher gut erfüllt – auf Kosten des Dritten!

Meine Woche ist voller Termine. Ich gehe täglich vor der Arbeit zum Yoga, zweimal die Woche nachmittags zum Tablaunterricht (Tabla ist eine indische Trommel), zweimal die Woche zum Kannadaunterricht und ebenfalls zweimal zum Bhagavad Gita Philosophie Unterricht (die Bhagavad Gita ist ein sehr wichtiges Schriftstück in der hinduistischen Kultur). Ich bin also sehr viel unterwegs, meistens mit meinem Fahrrad. Dabei ist es interessant für mich zu beobachten, dass ich zwar ein ähnlich volles Leben lebe, wie in Deutschland, es aber bisher sehr gut schaffe nicht in meine alten Stressmuster zu fallen. Und all meine Hobbys machen mir sehr viel Spaß. Vor allem nach jeder Tablastunde fühle ich mich voller Energie.

Die Fülle unter der Woche, spiegelt sich auch in den Wochenenden wieder. Fast jedes Wochenende bin ich auf Achse. So habe ich in meinen ersten drei Monaten schon 16 Orte bereist. Meine Oktoberferien und die Wochenenden nutze ich fleißig. Zwar hatte ich mir vorgenommen zu reisen, allerdings hätte ich nicht erwartet, dass ich tatsächlich so viel unterwegs bin. Aber öffentliche Verkehrsmittel und Unterkünfte sind in Indien schlichtweg überraschend günstig.

Indien – so wie ich hinschaue

Ein Kulturschock, wie ich ihn erwartet hatte, blieb zwar aus, aber es gab so unendlich viel Neues, wie ich es mir nie hatte vorstellen können! Als ich das erste Mal in einem Restaurant war habe ich kein Essen der Karte gekannt und war mir sicher, ich würde niemals wissen, was all das ist. Mittlerweile ist es kein Problem mehr mich zu entscheiden, welches Brot ich haben möchte: Naan, Roti, Kulcha, Chapati, Parota oder Dosa? Und an Kleinigkeiten wie diesen merke ich, dass ich mich in Indien eingelebt habe.

In Deutschland hatte ich mich bei meiner Vorbereitung auf Indien immer auf den Makrokosmos konzentriert: Indien allgemein. Hier erlebe ich täglich den Mikrokosmos: Das tägliche Leben. Es ist zwar cool, was über Indien im allgemeinen zu wissen, aber es war kaum eine Vorbereitung, auf den Alltag hier.

Ich glaube meine größte Erkenntnis bisher ist, dass das Leben hier auch funktioniert. Und zwar echt ähnlich wie zuhause. Denn wir haben alle die selben Grundbedürfnisse! Alles ist zwar ein bisschen anders, aber auch hier essen die Menschen, sie arbeiten und lernen, sie kaufen ein, sie kochen und putzen, sie feiern Feste. Es kommt mir vor, als sind es die selben Bausteine, sie sind nur ein bisschen anders zusammengesetzt.

Überrascht bin ich auch über den Umgang mit Armut. Viele Menschen hier sind materiell arm.

Zum Beispiel befindet sich nur 20 Meter von unserem Haus entfernt eine Hüttensiedlung. Sie teilen sich alle einen Wasserhahn und aus diesem kommt nicht einmal durchgehend Wasser. Oft sehe ich, wie 20 leere Wasserkrüge um den Hahn herumstehen und darauf warten aufgefüllt zu werden.

Aber ich habe gemerkt, dass ich mir, anhand der mir gegebenen Informationen durch Medien und Schule, ein sehr dramatisches Bild von Armut gemach habe.

Die armen Menschen, die mir hier begegnen dramatisieren ihre Armut nicht. Sie leben mit ihr und machen das Beste aus ihren Möglichkeiten. Sie füllen ihre Wasserkrüge, immer dann, wenn gerade Wasser kommt und lächeln mir zu, wenn ich dann gerade vorbeilaufe.

Ich habe erfahren, was ich zuvor häufig gelesen habe:

„materielle Armut ist unabhängig von emotionaler Armut!“.

Und so gehe ich durch mein neues indisches Leben. In Gedanken begleitet mich häufig ein schlauer Satz von Sri Mata Amritanandamayi Devi: „Der Augenblick geht vorbei, egal, ob man lächelt oder nicht – also ist es besser zu lächeln.“ Und dann lächele ich und das macht mich gleich glücklicher. Und zuhause sitze ich dann vor meinem LapTop schreibe nach Deutschland:

„Momentan fühle ich mich sehr, sehr wohl mit dem Alltag, der sich mittlerweile eingestellt hat.“