4. Bericht Rabea Schömann 22.02.2012

 Abschlussbericht  

Nach gut einem Monat in Deutschland fragte mich Kuba – ein Freiwilliger aus Polen – über Facebook, ob ich in der grauen Realität wieder angekommen sei. Diese Frage ist durchaus berechtigt. Neigt man doch dazu, in der Ferne seine Heimat zu idealisieren. 

Die ersten Tage zurück in Gießen liefen ab wie in einem Film, den ich nicht anhalten konnte. Zu groß war meine Freude auf die bekannten Gesichter meiner Familie und Freunde, das von mir lang ersehnte gewohnte Essen und überhaupt die gute deutsche „Gemütlichkeit“! 

Schnell begann ich, meine neue, alte Umgebung zu beobachten. Einiges erscheint mir bis heute noch bizarr und nichtig, und es fällt nicht leicht, die für mich so wichtigen Erfahrungen mit jemandem zu teilen. Trotzdem hoffe ich, mit meinem schriftlichen Abschlussbericht einige meiner persönlichen Erlebnisse und Erkenntnisse euch vermitteln zu können. 

Ich habe 12 Monate Indien erlebt mit dem persönlichen Hintergrund, so wie ich in Deutschland aufgewachsen bin. Mit meiner „kulturellen Brille“ vor den Augen habe ich nur bestimmte Ausschnitte von Land und Bräuchen gesehen und nur einen verschwindend kleinen Teil der Landesbevölkerung getroffen, geschweige denn, mit ihnen gesprochen. Ein festestehendes Urteil über das Land kann ich mir wohl kaum erlauben. So kann ich nur davon berichten, wie der kleine Ausschnitt, den ich erlebt habe, von mir wahrgenommen wurde. 

Das Arbeiten in Ananya war für mich eine sehr aktive und befriedigende Zeit. Ananya bot mir einen Rahmen, in dem ich mir gebraucht vorkam und in dem ich eigene Ideen umsetzen konnte.

Wenn man sich dafür entscheidet, ein Jahr in Ananya zu leben, bedeutet dies, sein Leben den Kindern zu widmen und eigene Bedürfnisse auf ein Minimum zu reduzieren.

Es fängt mit den Essgewohnheiten an und geht hin bis zur Privatsphäre und dem Privatleben. Mit dem Reduzieren der Wichtignahme der eigenen Person wachsen die Aufgaben und die Verantwortung. Als Freiwillige bin ich zu einer wichtigen Bezugsperson für die Kinder geworden. So war ich mal Beraterin, Streitschlichterin, Krankenschwester, Köchin oder einfach nur Spaßvogel.

Darüber hinaus gab es die Verantwortung, immer wieder neue Pläne zu erarbeiten, um die geregelte und freie Zeit der Kinder so zu gestalten, dass sie für die Kinder möglichst Freude bringend, aber auch lehrreich verläuft. Dem gerecht zu werden, und allen Kindern die Aufmerksamkeit zu schenken, die ihnen zusteht, war nicht immer einfach. Dementsprechend  war ich sehr froh, meine Arbeit mit anderen Freiwilligen teilen zu können. 

Gemeinsam ließen sich die Pflichtprogrammpunkte gut bewältigen. Diese waren z.B. Arztbesuche, Kontrollieren der Gemeinschaftsarbeiten, morgendliches Laufprogramm, in der Küche helfen, Nachmittagsspiele, abendliche AG‘s, und außerschulische Betreuung: „Fun-World“, Marathon u.s.w..

Irgendwann wurden Fußball, Cricket und Jokerball am Nachmittag zu einer gewissen Routine und langweilig für uns Freiwillige. Wir hätten wohl bis ans Ende unserer Tage so weiter spielen können, aber das wäre nicht sonderlich befriedigend gewesen. So haben wir besprochen, mindestens einmal die Woche etwas Außerordentliches anzubieten.

Ich genoss die gemeinsame Planungszeit mit Kuba und Moritz an unseren freien Wochenenden sehr, an denen wir uns besondere Events für die Kinder ausgedacht hatten. Aus unserer Freizeitlaune heraus sind Projekte entstanden, wie die „Piratenschatzsuche“, „Olympiade“, „Indianer-Lagerfeuer-Grillparty“, „Agentenspiel“, „Pizza-Backen“, „Alice im WunderlandTheater“ usw.

Zu den Lehrern, die von außen kamen, hatte ich ein freundliches und mit etwas Distanz versehenes Verhältnis. Dadurch, dass sie in die Schule kamen, wenn ich freie Zeit hatte, gab es nicht viele Gelegenheiten zum persönlichen Austausch. Doch der Mittagstisch bot hinreichend Gelegenheit, mit Lehrern und Besuchern über die Kinder oder Gott und die Welt zu sprechen. Darüber hinaus hatten wir Freiwilligen jeden Mittwoch die Möglichkeit, an der Lehrerbesprechung teilzunehmen. 

Besonders beeindruckt hat mich das Ehepaar Suman und George, die neben ihrer Lehrerrolle die Rolle der Schuleltern mit großem Engagement ausfüllten. George ist Verwalter, Hausmeister, Gärtner und Lehrer in einer Person. Suman kümmert sich neben ihrem eigenen Sohn um alle SchülerInnen wie eine Mutter. Außer ihrer Lehrertätigkeit ist sie auch für Organisation der Küche zuständig, wobei sie sehr oft selbst Hand anlegt. Mit Suman und Geoge habe ich viele Wochenenden gemeinsam verbracht. Sie sind mir sehr ans Herz gewachsen. 

Ananya ist für mich wie eine riesengroße Familie, in der jeder nach dem anderen schaut, sich keiner zu wichtig nehmen sollte, aber jeder die Freiheiten hat, sich auszuprobieren und zu entwickeln. Ananya ist eine Schule, die in Bewegung ist und in der ganz viel Leben steckt. Ich bin sehr dankbar, ein Teil in dieser „Bewegung“ gewesen zu sein und mich dort so angenommen fühlen konnte. 

Meine Integration außerhalb der Schule war hingegen nicht immer einfach, da mein äußerliches Erscheinungsbild immer präsent war. Meine weiße Hautfarbe gab mir stets eine Sonderposition. Ob das für mich vorteilhaft oder nachteilig war, lag an der jeweiligen Situation und der Bewertung meiner besonderen Positionen. Doch in jedem Falle fühlte ich mich immer „anders“. Natürlich mochte ich nicht, wenn mich „Riksha“-Fahrer für übertriebene Preise mitnehmen wollten, allerdings war es auch bequem, an gewissen Events nicht stundenlang in einer Schlange mit Hunderten von Menschen warten zumüssen, sondern als „VIP“ gemütlich einen Seiteneingang hineinzuspazieren. Weil ich Weiß bin. 

Es ist interessant, sich über seine Hautfarbe bewusst zu werden. Dafür musste ich die Grenzen meines bisherigen Daseins verlassen, um zu spüren, dass ich eine Weiße bin und damit absolut privilegiert bin. Es kommt mir so vor, als sei „Weiß“ nicht nur in Indien ein Schlüsselwort für: reich, gebildet und schön! Komisch, dass so viele weiße Menschen so unglücklich sind. Wo sie doch vom Rest der Welt als die absoluten Gewinner betrachtet werden. Die Hautfarbe ist etwas, was wir uns nicht aussuchen können, es scheint als hätte Gott gewürfelt, wer wo geboren wird und welche Hautfarbe mit sich bringt. Gerade deswegen fühlt es sich oft so ungerecht an und man sollte sich bewusst machen, dass mit der Tatsache der eigenen Privilegierung verantwortungsvoll umzugehen ist! 

So machte ich auf InderInnen oft den Eindruck, ich sei eine  reiche Touristin. Und selbst wenn ich versucht habe, zu erklären, dass ich kein Geld mit dem Freiwilligendienst in der sozialen Arbeit verdiene, war dies für die meisten nicht nachvollziehbar, da ich ja offensichtlich die finanziellen Mittel hatte, nach Indien zukommen und hier zu leben. Was ist arm, was ist reich? Eine völlig neue Relation macht sich in meinem Kopf breit. 

Hätte ich die eine oder andere regionale Sprache besser sprechen können, wäre es mir wohl in einigen Situationen leichter gefallen, mich mit den Menschen auf den Straßen auseinander zu setzen. Da ich in der Zusammenarbeit mit den Kindern auf Englisch zum größten Teil super klar kam, hatte  ich wenig Motivation, mich hinzusetzen und die Regionalsprache Cananda zu pauken, eine Sprache, die ich womöglich nie außerhalb dieses Rahmens gebrauchen kann. So konnte ich mich aber eben auch mit den ganz einfachen Leuten, den meisten Dorfbewohnern, inhaltlich nicht auseinandersetzen, was sehr schade war.

Durch die ganze Umstellung mit den vielen fremden Sprachen und der Tatsache, dass mich Menschen einfach nicht verstehen konnten, wurde ich sehr sensibel dafür, auf die Körpersprache eines Menschen zu achten: Welche Emotionen das Gegenüber beim Reden herüberbringt, welchen Gesichtsausdruck und Gestik es wählt. Dennoch möchte ich festhalten, dass ich gespürt habe, wie wichtig Sprache als Kommunikationswerkzeug ist, und das Teilen von Sprachen ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl auslöst! 

Ein anderer Punkt, Trennung zu erfahren, war für mich die in Indien noch weitverbreitete Trennung der Geschlechter. Die praktische Ungleichheit von Mann und Frau war eine Realität, die mir in Indien immer wieder zu schaffen gemacht hat. Für mich war es ja selbstverständlich, dass Frauen heutzutage jeden x-beliebigen Beruf ausüben können und Männer sich nicht schämen müssen, wenn sie sich zuhause um Haushalt und Kinder kümmern. 

Dass dies in Indien anders ist, war mir im Vorhinein klar. Anfangs wollte ich alle Regeln vollkommen akzeptieren und befolgen. Doch es dauerte nicht allzu lange, bis sich in mir ein innerer Widerstand gegen die Rolle der Frau in Indien breit machte. Das hat sich bei verschiedensten Gelegenheiten gezeigt. Bei den traditionell orientierten Leuten macht der Mann keinen Handschlag in der Küche. Ich wurde jedes Mal innerlich verärgert, wenn die Männer zuerst essen durften. Nur weil sie Männer sind!

Besonders geärgert habe ich mich über die „Raudies“ auf den Straßen. Ich meine damit junge, meist ungebildete Männer, die sich Späße mit Frauen erlauben. Dazu gehören blöde Anmachsprüche oder auch körperliche Übergriffe. Als weiße Frau, die als sexuell offen gilt, ist man leicht ein Opfer für solche Männer. Aber auch abgesehen von diesen Raudies ist es generell schwierig, auf der Straße ein unbefangenes Gespräch mit dem Anderen Geschlecht zu führen. Die Männer unterstellen offensichtlich, man hätte ein tiefergehendes Interesse, als das eigentliche Gesprächsthema. Ich möchte nicht behaupten, dass dies grundsätzlich so ist, doch in meinem Falle hatte es oft diesen Anschein.

Bestimmte Regeln in dieser Gesellschaft, die ich anfangs blöd fand, stellten sich später als total hilfreich heraus. Wie z.B. das getrennte Sitzen von Frau und Mann im Bus. So ist der Frauenbereich im vorderen Teil und der Männerbereich im hinteren Teil des Busses gekennzeichnet. Dass ich anfangs lieber im hinteren Bereich Platz genommen hätte und nicht verstehen konnte, dass dort nur die Männer sitzen durften, war wahrscheinlich noch so ein Ding aus meiner Teenagerzeit, in der das Hinten-sitzen im Bus als „cool“ galt. Doch wenn man dann das Busfahren zur „Rush Hour“ miterlebt, in der sich die Menschen von allen Ecken in den Bus nur so quetschen, so dass Körper an Körper gepresst sind, haben Männer eben ein leichtes Spiel zu belästigen, ohne dass man am Ende genau sagen kann, wer es war ,oder dass es mit Absicht geschehen ist. Die meisten Frauen trauen sich auch nicht darauf zu reagieren und die Tat direkt anzusprechen. Jedenfalls habe ich dadurch gelernt, viele Dinge, die in Indien so sind, wie sie sind, haben ihren Sinn. 

Dennoch habe ich auch mitbekommen, dass Veränderungen im Gange sind. So habe ich in einer Zeitschrift von einer Protestbewegung von Frauen gelesen, die mit Miniröcken bekleidet in Städten dafür demonstrieren, dass derartige Bekleidung keine Einladung zur Vergewaltigung darstellt. Dies ist ein kleiner Anfang. So ist z.B. bereits in den Bussen mit Klimaanlage in Bangalore, in denen meist studierte Leute mitfahren, keine Sitzordnung für die Geschlechter mehr vorhanden.

Die ganze Sache ist ein Prozess und wird wohl noch lange dauern, bis er auch in den vielen Dörfern ankommt. 

Trotz manch unangenehmer Situation bei meinen Bus- und Zugfahrten gab es oft genug auch wunderbare Momente, die mich sehr glücklich gemacht haben. Ich erinnere mich an drei indische Mädchen meines Alters in Sari und Blumen im Haar, die im Bus einmal neben mir saßen. Sie sprachen alle Canada und aßen genüsslich eine süße Frucht namens Guava. Weil ich dort so in ihrer Runde mit saß, boten sie mir an, eine Stück der Frucht mitzuessen! Trotz der sprachlichen Unterschiede verstanden wir uns irgendwie. 

Außerdem darf an dieser Stelle auch nicht fehlen, die Freundschaft zu Dominiks Gastfamilie zu erwähnen, von der ich im letzten Bericht erzählt habe. 

Es ergaben sich über das Jahr hier und da  Bekanntschafts- und Freundschaftsbeziehungen zu InderInnen. Dabei stellte ich fest, dass es sich nicht unbedingt um Freundschaften in dem uns gewohnten Sinne handelt, wenn InderInnen von „friends“ sprechen. 

Abschließend betrachtet, war das vergangene Jahr nicht so, wie ich es erwartet hatte. Durch meine Arbeit in einer Schule, die sozusagen wie ein Internat funktioniert, hatte ich wenig Freizeit und Gelegenheit, am kulturellen Leben in Indien teilzunehmen. Ich hatte mir vorgestellt, regelmäßig tanzen zu gehen oder öfter Sport zu machen. Ananya war für mich ein Vollzeitprojekt. Dennoch war dieses Projekt mit seinen überwiegend positiven Seiten nach der Eingewöhnungsphase genau das Richtige für mich. 

Wichtig für mich ist, dass ich mein Deutschland zentriertes Weltbild für eine gewisse Zeit aufgeben musste und sich mir ein Perspektivwechsel ermöglicht hat: Den gewohnten Lebensrahmen mal nicht als normal und selbstverständlich anzusehen und diesen mit einer anderen Kultur zu vergleichen. Dabei konnte ich am eigenen Leib spüren, wie sehr die Kultur, in der wir aufwachsen, uns prägt. Ich musste feststellen, dass das Vergleichen nicht so einfach möglich ist, ist schon die Geschichte Indiens und Deutschland doch absolut unterschiedlich. 

Das spannende war, dass ich mich anfänglich voll und ganz auf das indische Leben, wie es eine junge Frau meines Alters führen würde, einlassen wollte. Ich wollte mich also möglichst vollständig nach den vorgegebenen gesellschaftlichen Normen verhalten. Das dies gescheitert ist, lag zu einem an der Tatsache, dass ich immer anders aussah, zum anderen, dass ich irgendwann begann, mich innerlich gegen bestimmte Dinge zu sträuben, die nicht in mein Bild passten. In vielen Punkten bin ich eben doch eine Europäerin und kann mich mit einigem hier identifizieren. Durch die Erfahrung in Indien sind mir aber auch die Schattenseiten unserer Kultur stärker bewusst geworden. So hoffe ich, in Zukunft weiter einen kritischen Blick auch auf die Dinge werfen zu können, die hier bei uns scheinbar wie selbstverständlich passieren. 

Wenn ich eins in Indien gelernt habe, dann ist es das, dass sich Umstände ändern können und zwar oft recht spontan. „no problem, no problem“  

Danke an alle die mir dieses erfahrungsreiche und unvergessliche Jahr mit „weltwärts“ ermöglicht haben. Danke an meine Förderer, danke an ICJA, danke an meine Familie und Freunde!! 

Alles Liebe

Rabea

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